Betreff: Weihnachtsgeschichte 2007

Pling. Ein neues Mail. Genau darauf hat Martin gewartet: Die Weihnachtsgeschichte für die Front der Zeitung von morgen, 24. Dezember. Ein sehr kleines Mail, wahrscheinlich hat die Absenderin die Textdatei nicht angehängt. Martin öffnet die Meldung. Er liest einige Zeilen, klickt auf das "Weiterleiten"-Symbol, verfasst zwei Sätze für seine Chefin mit dem Hilferuf "Was jetzt?" Und vertieft sich nochmals in die Mitteilung.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen

Seit Jahren habe ich für Euch eine Weihnachtsgeschichte geschrieben, mal ein bisschen besinnlich, dann wieder eher fröhlich, oder auch mal verspielt. Dieses Jahr habe ich es einfach nicht geschafft, eine Geschichte zu schreiben. Ideen hätte ich schon, aber immer nach den ersten zwei drei Sätzen konnte ich nicht weiter schreiben.

Da gibt es Bilder und Ereignisse in den letzten Wochen, die sich vor all die schönen Weihnachtsstimmungen geschoben habe, die ich für Eure Leserinnen und Leser heraufbeschwören wollte mit meinen Worten.

Zum Beispiel das Bild von jenem Mädchen, das mitansehen musste, wie sein Vater bei einem militärischen Angriff von einer Granate getroffen und zerfetzt wurde. Oder die Berichterstattungen über die Klimakonferenz in Bali - angesichts der Befunde der KlimaforscherInnen von überall auf der Welt wäre eigentlich dringliches und engagiertes Handeln erforderlich. Zufrieden mit dem Ergebnis können allenfalls nur jene Frustrierten sein, die noch weniger erwartet haben. Zu schaffen gemacht hat mir auch eine Studie, die die Folgen des von den Menschen gemachten Klimawandels darstellt. Die Welt dürfte sich dermassen stark verändern, die Lebensbedingungen für die Menschen werden sich voraussichtlich dermassen verschlechtern, dass in nicht so fernen Zeiten Weihnachtsfeste nur noch ein Begriff aus dem Geschichtsbuch sein dürfte. Ich habe den Eindruck bekommen, dass eine neue Weihnachtsgeschichte nicht die richtige Antwort auf die aktuelle Situation ist.

Nein, ich will niemandem das Weihnachtsfest vermiesen, ich weiss selbstverständlich auch, dass nicht das Verhalten an Weihnachten über die Zukunft von Menschheit und Erde entscheidet, sondern das, was die Menschen in der übrigen Zeit des Jahres tun. Nur habe ich den Eindruck, dass wir alle ausserhalb der Weihnachten zu wenig tun dafür, dass es auch zukünftig Weihnachten geben kann, geben wird.

"Die besten Wünsche für die Festtage und das Neue Jahr" - diese Formel steht auf vielen Weihnachtsgrüssen. Ja, das wünsche ich Euch wirklich - aber das kann ich nur, wenn ich mit meiner ganzen Person dahinter stehen kann und aus ganzen Kräften dazu beitrage, diese Wünsche umzusetzen. Ich bin mich gewohnt, mit Worten umzugehen, aber ange-sichts der Realität sehe ich mich ausserstande, die stimmungsvollen Worte zu verwenden, die dafür sorgen, dass es meinen Leserinnen und Lesern warm ums Herz wird, wenn sie meine Geschichte lesen.

Frohe Weihnachen! Friede und Freude allen Menschen auf Erden! Ein gutes Neues Jahr! Ja, das wünsch ich Euch, und ich hoffe, dass auch Ihr dies wünscht. Damit Wünsche wahr werden, braucht es auch das Wollen vieler, aller Menschen. Nicht alle Wünsche können von den Menschen allein erfüllt werden. Aber es gibt doch einiges, was Menschen mit ihrer Tatkraft tun können, um Wünsche erfüllbarer zu machen.

Herzlich Eure Sana

Martin macht nach dem zweiten Durchlesen einige Notizen auf seinem Block, als Eila, die Chefredaktorin, zu ihm an den Tisch kommt. Ja, was jetzt?, meint sie. Wir könnten ja einfach eine Geschichte aus einem früheren Jahr nochmals verwenden, das würde kaum jemand merken. Aber ich habe da eine bessere Idee. Wir lassen die Front leer, drucken mit grossen, ganz feinen Buchstaben die Wünsche von Sana ab. Und ich werde auf der zweiten Seite - zum Teil mit Zitaten von Sana - unsere Geschichte zu dieser Front aufschreiben. Und ich schliesse mit dem Aufruf, die Tatkraft zur Umsetzung der Wünsche auszuprobieren: bitte mit einem Schreibstift diesen Wünschen mehr Kraft geben!

Am 24. Dezember zogen erstaunte LeserInnen eine Zeitung mit blanker Titelseite aus dem Briefkasten - erst im Licht zeigten sich die sanften Zeichen, und nach dem Umblättern fanden die meisten eine Erklärung. Nicht wenige nahmen Farb- oder Filzstifte zur Hand und bestätigten mit ihren Strichen die Wünsche.


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Silja, Damian, Dagmar, Vreni, Toni www.pünteners.ch - www.xn--pnteners-65a.ch